artravers #2 2023

2023 gab es erneut ein artravers, das immer noch ARTsTRAvers hiess und von le ventre in Kooperation mit dem Fachwerk Allschwil und Accélérateur de Particules organisiert wurde.

Eric Androa Mindre Kolo ‘s (EAMK’s) Residenz begann am 12. Mai. Er kam mit seinem Freund, dem Sänger Marciano Larousse (ML), der erst kürzlich aus Kinshasa angereist war. 

1. Tag von Ateliers Ouverts und artstravers #2 am folgenden Morgen, 13. Mai um 10:30: Eröffnungsbrunch von artstravers #2 im Fachwerk Allschwil. Nach dem Frühstück eine Ansprache der Veranstalter:innen Mimi von Moos und Martin Burr und eine Performance von EAMK und ML, die eigentlich den Rest des Tages ihren Lauf nahm und erst am Abend ein Ende fand. In le ventre beginnt EAMK mit gefundenem Holz den Saal zu gestalten. Er wird dabei vom Gesang von ML begleitet und stimmt sporadisch in einen Refrain ein. Besucher:innen kommen und gehen.

2. Tag von Ateliers Ouverts während artstravers #2 am 14. Mai: EAMK und ML performen im Saal der Synagoge mit den historischen Gegenständen der Synagoge.

3. Tag von Ateliers Ouverts während artstravers #2 am 20. Mai: Eine Performance von EAMK, ohne ML (der ist abgereist). EAMK hat schon viel Holz aus dem nahegelegenen Wald hereingeschafft. Die Performance beginnt im Saal der Synagoge, und endet im Dorf Hégenheim.

4. Tag von Ateliers Ouverts während artstraver#2 am 21. Mai: EAMK hat auf einen alten Fahrradanhänger mit Holzlatten ein Häuschen gebaut und sich miteinem gefundenen und zurechtgeschnittenen Kartoffelsack bekleidet. So macht er sich auf den Weg über den Rosenberg nach Allschwil, wo er ca. eine Stunde im Dorfkern performt, zum grossen Erstaunen der Dorfbewohner:innen.

Ateliers Ouverts ist nun vorbei, doch die Residenz geht weiter.

5. Am 30. Mai im Museum kleines Klingenthal in Basel: Mimi von Moos präsentiert das Projekt le ventre/synagogue Hégenheim. Parallel dazu macht EAMK eine unangekündigte Performance. Das Publikum ist positiv überrascht und erfreut über die doppelte Aufmerksamkeit, die sowohl Vortrag wie Performance verlangen.

6. Am 1. Juni ist EAMK in der Sekundarschule Allschwil zu Gast. Die Klasse haben die Geschichten und Perspektiven von EAMK sehr berührt. 

7. Am 10. Juni in le ventre/synagogue Hégenheim: Improvisation mit Künstler:innen auf der Durchreise aus Rotterdam: Live-Videoperformance von Marit Shalem und Live-Musik von Dirk Bruinsma und Performance von EAMK.

8. Finissage von artstravers#2 am 18. Juni in le ventre/synagogue Hégenheim: Der Saal ist nun zu einem Wald geworden. Es ist dunkel. Die Performance beginnt hier und endet im nahegelegenen Wald. Jede:r Besucher:in nimmt einen Ast aus dem Saal mit und bringt diesen zurück in den Wald.

EAMK’s Performances sind intensiv und mitreissend, ich wusste zunächst gar nicht recht, warum. Es gibt diese Bewegungen, dieses Mäandern im Raum. EAMK scheint in einem anderen Zustand zu sein. Wo ist er? Was treibt ihn an? Ich sehe einen Mann sich ziellos im Raum bewegen, der Raum ist ein anderer, hier wird eine andere Sprache gesprochen. EAMK baut sich auf, robbt, stampft, verbiegt sich, schreit und murmelt in dem Raum. Er bindet sich Äste aus dem nahegelegenen Wald an den Körper. An die Äste hatte er zuvor die Plastikrosen, die er in grosser Zahl mitgebracht hatte, gebunden. Er bindet die Äste auf seinen Rücken und an seinen Kopf. Bindet sich ein, mit allem, was er schon dabeihatte und was noch dazu gekommen ist, verlässt den Raum mit allem, was er sich angebunden hat, was ursprünglich von Draussen kam. In EAMK’s Performances kommt jeweils der Moment, wo es einem ans Innere geht und die Augen feucht werden können: EAMK öffnet langsam eine Metallkiste, die er davor auf seinem Kopf herumgetragen hat. Er öffnet sie und ML verstummt, richtet sich auf aus dem Loch im Boden, in dem er sass, und beide schauen in die Kiste. Wir sehen die beiden schwarzhäutigen, die sich zuvor mit weissen Punkten besprenkelt hatten, in die Kiste schauen. Den offenen Kistendeckel sehen wir auch, nicht aber den Inhalt der Kiste. Und dann sehen wir Tränen in die Kiste fallen. Wir müssen uns auch nach vorne beugen und genau hinsehen, um uns zu vergewissern: es fallen tatsächlich Tränen in die Kiste, jene Metallkiste, die zuvor von EAMK orange angemalt wurde, orange, wie der überdimensionierte Rettungsring der Ateliers Ouverts Eröffnungs-Performance von ihm in Strasbourg.

Oder: Ich präsentiere das Projekt le ventre/synagogue Hégenheim im Museum kleines Klingenthal in Basel. Nachdem ich begonnen habe, kommt EAMK nach vorne und setzt sich neben mich. Ich unterbreche mich, um ihn kurz vorzustellen und fahre danach mitmeiner Präsentation fort. EAMK bindet sich die Äste an den Kopf, sie erinnern an ein Geweih. Die Äste sind ebenfalls teilweise umwickelt mit bunten Streifen von afrikanischen Stoffen, also eigentlich in Holland für den afrikanischen Markt produzierten Stoffen. Mit Vlisco-Stoffen, um ganz genau zu sein. Er öffnet eine Flasche mit weisser Farbe und tupft sich mit einem Finger einen weissen Punkt nach dem anderen ins Gesicht, bis ich mit meiner Präsentationfertig bin, dann verabschiedet er sich ganz freundlich und verlässt den Raum.

EAMK ist ein Performance-Künstler - was bedeutet, sich auf den Raum zu beziehen, auf die Situation, auf die Raumzeit, auf den inneren Raum, der auch eine Landschaft ist und den äusseren Raum, der ebenfalls eine Landschaft ist.

Die Materialität der Landschaften, der Boden, die Pflanzen, die Baustoffe, die Alltagsmaterialien, die Bewegung durch diese Räume mittels des eigenen Körpers. Das ist ein Aspekt. Eine weitere Dimension kommt durch die Accessoires, die EAMK mitbringt, hinzu. Sie sind mehr als Beiwerk, sie sind sein Hofstaat, seine Aura, Stellvertreter, deren Materialitätsaspekt zweitrangig ist. Die Plastikrosen, die Fummi-Skelette, die afrikanische Maske, bei der es sich um ein Billigprodukt aus der Afrika-Tourismus-Industrie handelt. Diese Objekte sind EAMK’s Begleiter. Er reist mit ihnen an und wieder ab. Sie sind seine Vorfahren, seine Verwandten, seine Identitäten. Denn natürlich schwingt in EAMK’s Kunst das Trauma der Gewalterfahrung mit. Das Gewaltsame der dortigen und der hiesigen Welt. Die Narben undVerletzungen sind allgegenwärtig, die Trauer um verlorenes Wohlsein, die Sehnsucht danach. Das Leben ohne Gerechtigkeit. Das Leben in einem selektiven Rechtsstaat. Es ist dieselbe Gewalt in diesem und in jenem fernen Herkunftsland. Sie ist von unserem Kulturkreis initiiert. Sie hat alles imprägniert, hier und dort. Sie herrscht, diese Gewalt, und wir leben darin, ob wir es sehen wollen oder nicht. EAMK konfrontiert uns nicht direkt. Er konfrontiert uns auf eine freundliche Art mit seiner Performer-Präsenz. Verletzen tut er manchmal sich selbst ein bisschen. Es zu sehen, kann schmerzen. EAMK’s Residenz hat sicherlich nicht nur bei mir viel ausgelöst. Einsichten, Erkenntnisse, Betroffenheit, Sympathie, Stolz. Es war eine gute Zeit mit unvergesslich schönen Momenten. Ich habe einen Menschen kennen lernen dürfen, der schmerzhafte Erlebnisse in Weisheit und grossartige Performances umzuwandeln weiss. Unser Austausch war von Wärme und Wohlwollen geprägt und hat zu einer Freundschaft geführt.

EAMK’s Residenz fand viel Beachtung im nahegelegenen Basel und in Mulhouse. Es sprach sich schnell herum, dass da ein interessanter Künstler residiert. Alles in allem war die Residenz in unseren Augen ein Erfolg und eine grosse Freude. Sie wurde vor allem bei Künstlerkolleginnen und Kuratorinnen mit grossem Interesse aufgenommen.

EAMK nahm das Konzept der Interventionen in der grenzüberschreitenden Landschaft auf und lotete dessen Möglichkeiten gekonnt aus. Unser Anliegen, die Kunst- und Kulturszenen über die Grenzen hinweg zusammen zu bringen, scheint uns mit diesem Projekt ebenfalls erfüllt. Vor allem für die Finissage sind Besucher:innen aus Strassburg und Mulhouse angereist und viele sind aus Basel gekommen.

Die sehr fruchtbare Begegnung mit den Rotterdamer Künstler:innen hat zudem auch in Holland für Aufmerksamkeit gesorgt.

Die Zusammenarbeit mit Accélérateur de Particules hat sich sehr gut abgespielt, wofür wir uns an dieser Stelle herzlich bei Sophie Kauffenstein bedanken möchten. Wir denken, es ist uns gemeinsam gelungen, für den Gast bestmögliche Bedingungen zu schaffen.

Wir, Martin Burr und Mimi von Moos bedanken uns an dieser Stelle auch bei den Institutionen, die mit ihren Fördergeldern diese Veranstaltungen, derenRealisierung arbeitsaufwendig sind, überhaupt erst möglich machen.

Mimi von Moos